Paradigmenwechsel in der Baubranche: Quo Vadis?
Interview mit Ulrich Binder
Was sind derzeit für Sie als Architekt die größten Herausforderungen in Ihrer täglichen Arbeit?
Eine schwierige Frage, weil sie gleich einmal alles erschlägt. Wir sind daran interessiert, gute Architektur und gute Räume zu machen und mit Mitteln zu arbeiten, die zeitgemäß sind. Wir denken nicht rückschrittlich, sondern wir sind immer bestrebt, gute kreislauffähige Materialien zu verbauen und mit nachwachsenden Ressourcen zu arbeiten. Diese ganzen Krisen-Szenarien sind nicht täglich in unserem Kopf, sondern wir konzentrieren uns weiterhin auf das, was wir schon immer getan haben: gute und nachhaltige Architektur zu bauen, mit ein wenig mehr Verantwortungsbewusstsein für Baumaterialien, die wirklich schonend mit den Ressourcen umgehen. In den letzten Jahren haben wir unglaublich viele Holzbauten geplant, auch städtische Häuser in Holzbauweise. Uns interessiert die Überlegung und damit die Haltung, auf welche Dinge wir wirklich verzichten können. Wir sind der Meinung, dass wir diese ganze Haustechnik, die wir verbauen, deutlich reduzieren könnten. Diese ganzen Smartbuildings, die alles können, braucht kein Mensch. Uns interessiert eher die Frage, wie wir puristischer arbeiten können. Warum können beispielsweise Elektroinstallationen nicht als Aufputz-Installationen verbaut werden, womit die Rückbaubarkeit wieder gegeben wäre. Man kann designtechnisch auch mit den Kabeln Räume gestalten und etwas Schönes machen. Dieser Irrsinn, alles in die Wände zu versenken, das dann eines Tages wieder aufzustemmen, sind so träge Entscheidungen, die alles andere als flexibel sind. Ein gutes Haus – man sieht es ja tatsächlich an den gründerzeitlichen Häusern – hat Räume, die ihre Dimensionen haben, die für verschiedene Generationen über Jahrzehnte umnutzbar sind. Das sind sehr gute Annahmen, die in diesen Häusern stecken. Je spezieller und je individueller ich ein Haus entwickle, desto unanpassungsfähiger ist das Ganze. Das ist die bekannte Diskussion mit dem Maßanzug. Wir müssen wegkommen von diesen Maßanzügen, von diesen spezifischen Projekten. Ein gutes Projekt ist eines, das über viele Jahrzehnte funktioniert und unterschiedliche Nutzungen aufnehmen kann. Das sind für mich Fragestellungen, die architektonisch wirklich interessant sind.
Was wird in puncto Nachhaltigkeit von Ihren Bauherren eingefordert?
Unsere Bauherren haben meist nur ein Interesse, nämlich ein ökonomisches, renditeorientiertes. Kostengünstig bauen und planen. Von den meisten Bauherren wird nach wie vor eine konventionelle kostengünstige Bauweise gefordert. Das Ziel, nachhaltig zu bauen, spielt nur dann eine Rolle, wenn Fördergelder für diese Maßnahmen ausgeschüttet werden. Allerdings rückt das Thema Nachhaltigkeit immer mehr in das öffentliche Bewusstsein und wird politisch gefordert. Wir merken es vor allen an aktuellen Wettbewerbsergebnissen. Es gibt kaum noch einen Beitrag, in dem es keine grünen Fassaden mehr gibt und ökologische Aspekte in den Fokus rücken. Wir stellen uns eher die Frage, was sinnvolle nachhaltige Kriterien sind, nachwachsende und rückführbare Rohstoffe etc... und haben darauf eine einfache Antwort: Wir müssen zurückkommen zum einfachen Bauen.
Wie beurteilen Sie die Deutsche Baukultur? Hinkt sie dem Bedarf der sich veränderten Gesellschaft hinterher?
Das Problem an Deutschland und unserer Architekturkultur ist die Fragestellung: wie können junge Architekt: innen bzw. junge Büros eine größere Rolle spielen? Bei unseren Wettbewerbsverfahren haben junge Büros kaum eine Chance, denn es werden ausschließlich etablierte Büros eingeladen. Ein Büro ohne eigene Referenzen hat da keine Chance. Es machen also immer dieselben dasselbe Zeug. Eine Durchmischung an anteilig etablierten und anteilig jüngeren Büros würde unsere Baukultur viel mehr pushen. Es gibt aber hochinteressante, heranwachsende Tendenzen, junge Baugenossenschaften, die auch im Sinne der sozialen Integration in ihren Projekten eine tolle Arbeit leisten und innovative Ansätze mit vielen neuen Impulsen liefern.
Was muss man als deutsches Architekturbüro in Zukunft leisten, um im globalen Wettbewerb zu bestehen?
Man braucht eine Haltung und ein Alleinstellungsmerkmal. Die Gebäude, die entstehen, müssen die Leute interessieren, nutzbare Räume schaffen und im besten Fall bewegen oder berühren. Wenn man das nicht liefert, geht man in der breiten Masse unter. Man muss also schon sichtbar und memorabel sein. Wichtig ist, dass man als Architekt:in ein gutes Gespür hat, eine Seele in ein Projekt hineinzubringen.
Sie sind im Bereich Wohnbau, Bürogewerbe, öffentliche Bauten, Städtebau und Revitalisierung tätig. Wie werden sich die einzelnen Bautypologien in Zukunft verändern?
Es gibt so einige Beispiele, an denen man sieht, wie die Gesellschaft und auch die Architektur auf Veränderungen reagiert. Der Freisitz in der eigenen Wohnung hat viel mehr Stellenwert durch Corona gewonnen. Nur eine Balkonplatte, die rauskragt, reicht nicht mehr. Es muss ein grünes und größeres Zimmer werden und ein Thema haben. Der Freisitz muss mehr können und auch einen Ausweichraum bieten. Ein Balkon mit 1,5 Metern Auskragung ist kein Highlight mehr. Er muss verschiedene Privatheitstufen generieren können, zum Beispiel durch Vorhänge etc.. Man reagiert also schon auf das Bedürfnis, dass man sich mehr zu Hause aufhält und mehr im Homeoffice arbeitet. Auch das Arbeitszimmer oder die Arbeitsnische in der Wohnung gewinnt zunehmend an Bedeutung. Darin zeigt sich, dass die Gesellschaft und auch die Architektur immer auf die aktuellen sozialen Tendenzen reagiert. Auch das Thema der Gemeinschaftsflächen in einem Wohnprojekt steht viel mehr im Fokus. Nicht irgendwelche banalen, sondern thematische Gemeinschaftsflächen, ob das jetzt Urban Gardening ist oder tolle Freisitze auf dem Dach von Wohnhäusern, wo man sich begegnen kann.
Gast
Ulrich Binder
FINK+JOCHER ARCHITEKTEN, MÜNCHEN
Ulrich Binder,1981 in München geboren, machte in 2007 sein Diplom in Kommunikationsdesign an der FH München. Es folgte ein weiteres Studium der Architektur an der Technischen Universität München, das er 2013 mit dem Diplom abschloss. Von 2013 – 2018 war er bei Fink+Jocher, München, als Projektleiter tätig. Im Anschluss erfolgte von 2018 -2020 eine wissenschaftliche Mitarbeit an der Technischen Universität München, Lehrstuhl für Städtische Architektur. In 2018 gründete er in München sein eigenes Architekturbüro. Seit 2020 ist er Geschäftsführer bei Fink+Jocher, München.
Gastgeberin
Sabine Gotthardt
Leader, Business Development Architecture & Real Estate Central Europe, LIXIL EMENA
Als Diplom-Ökonomin wurde sie 2008 von der GROHE Deutschland Vertriebs GmbH beauftragt, ein Netzwerk von VIP-Architekturbüros und Immobilienunternehmen aufzubauen, um deren Empfehlungsverhalten zugunsten von GROHE positiv zu beeinflussen. Als "Türöffnerin" entwickelte sie Strategien, um die Top-Entscheider der Architektur- und Innenarchitekturszene an GROHE zu binden. Verschiedene von ihr entwickelte Interviewreihen dokumentieren das Engagement von GROHE, die Entwicklungen und Veränderungen in der Baubranche als Partner zu begleiten.